Brigitta von Wolff M. W.

26. Kapitel

Oder: Wie das Wort actually seinen Siegeszug in unserer Konversation antrat

Mit jedem Bewerbungsgespräch, das ich in London führte, steigerte sich mein Selbstbewusstsein. Das war auch nicht weiter schwer, da ich mich meist für niedere Positionen bewarb, für die man nur bedingt englisch sprechen musste. Und für solche Anforderungen, so merkte ich recht bald, war mein Englisch aber auch mein bisheriger Erfahrungshintergrund zu gut. Sprich: überqualifiziert. Ich hatte gerade erfolgreich die Stelle im Casserly Court Hotel angetreten, da bekam ich schon wieder Höhenflüge und versuchte es im April einmal mit etwas Anspruchsvollerem: Aus der TNT hatte ich erfahren, dass der Busreiseveranstalter Trafalgar Tours, der Bustouren durch London, England und Europa anbietet, Personal für Verkauf und Reiseleitung suchte. Zwar ist Trafalgar ein Kap an der Straße von Gibraltar und würde als geographische Bezeichnung zu einem Reiseveranstalter passen, dennoch leitete sich der Name von dem gleichnamigen Platz ab, der ein berühmter Treffpunkt und zugleich Fotomotiv für viele Touristen ist. Der Trafalgar Square wiederum erlangte seinen Namen nach der am 21. Oktober 1805 bei Trafalgar stattgefundenen Seeschlacht, bei der die Napoleonische Flotte vernichtend geschlagen wurde, was England die Vormachtstellung auf See sicherte. Da ich bereits in Deutschland für Reiseveranstalter gearbeitet hatte, wäre dieser Job natürlich der absolute Karrieresprung für mich gewesen. Wäre deshalb, weil plötzlich eine Person namens Brigitta von Wolff auftauchte und mir die Tour vermasseln musste. Diese Erfahrung war für mich besonders bitter, denn selten wurde ich so deutlich wie hier vorgeführt.

Ich bat telefonisch um einen Gesprächstermin und erhielt ihn auch prompt zugewiesen. Das höhere Niveau bei Trafalgar Tours erkannte ich schon daran, dass ich vor einer überproportionierten Reception stand, wie in England in fast jeder Firma üblich, die etwas auf sich hält. Dort wurde ich nach meinem Namen gefragt und erhielt daraufhin ein Namensschild, das man bereits für mich vorbereitet hatte - komplett mit Vor- und Zunamen. Das schaffte mir schon erstes Unbehagen, denn für jeden war ja nun ersichtlich, dass ich Ausländer war. Fünf andere Mitbewerber waren bereits da. Es waren vier junge Australierinnen dabei, ferner ein gewisser David Crown, ein älterer, aber anscheinend waschechter Cockney. Meine Chancen gegen all diese Leute waren noch geringer als Null. Und wie als Beweis, dass es immer noch schlimmer kommen kann, wenn man denkt, es geht nicht mehr, erschien plötzlich diese Frau. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob mir zuerst ihr Namensschild mit dem Aufdruck Brigitta von Wolff aufgefallen war oder noch eher ihre weiße Bluse, auf der selbiges befestigt war und die sich über ihre Rundungen spannte. Oder war es ihr grauer Seidenrock, der ihre Figur ebenso gut betonte, oder war es ihr Gesicht mit großen Augen, einem nonchalant lächelnden Mund und blonden Haaren, die diesem Gesicht den passenden Rahmen verliehen? Ich wusste genau: Das Spiel heißt Ich gegen sie, denn es gab ja nur uns beide als Ausländer inmitten von inzwischen etwa zehn Bewerbern. Nur eine Mischung aus Herausforderung, Bewunderung und Neugier hielt mich überhaupt noch in dem vornehmen Büro an der Buckingham Palace Road. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich auch noch nicht ahnen, dass ich hier die Rolle der Napoleonischen Flotte bei Kap Trafalgar übernommen hatte und zum Untergang verurteilt war.

Wir erhielten die Anweisung, uns in einem Halbkreis auf den bereitstehenden Stühlen zu platzieren. Ich setzte mich gleich in die Ecke - nur weit weg von Brigitta. Das war ein Fehler. Denn in den Halbkreis trat nun ein sehr lebhafter und fröhlich wirkender Trafalgar-Mitarbeiter, der das Unternehmen kurz vorstellte, gefolgt von der unvermeidlichen Aufforderung an uns, etwas über uns selbst zu erzählen, also uns vorzustellen. Sicher war ich darauf vorbereitet, aber da ich ganz rechts saß, strahlten mich plötzlich seine Augen an: Would you please start, Matthias? Gleich als erster aufgefordert zu werden, behagte mir überhaupt nicht. Ich fühlte mich völlig überbügelt, erhob mich mit hochrotem Kopf und versuchte, einigermaßen fließend meinen Lebenslauf aufzusagen. Überraschenderweise erntete ich dafür sogar Applaus. Ob aus Bewunderung oder aus Mitleid ist eine Frage, die ich mir bis heute stelle und nicht zu beantworten vermag. Den meisten der anderen Lebensläufe hörte ich nur oberflächlich zu, denn ich wartete einzig auf Brigittas Auftritt. Er war nicht so gut, wie ich ihn befürchtet hatte, sondern noch viel besser. Sie trat nicht nur selbstbewusst und überzeugend auf, man hatte vielmehr den Eindruck, sie würde ihrer Freundin beim Einkaufsbummel ihre Biografie ausplaudern, so locker und leicht kam es bei ihr herüber - und das in fließendem, akzentfreiem, geradezu lupenreinem Englisch. Natürlich hatte sie schon jahrelang in New York und Tokyo gelebt, private Business-Schulen besucht, machte gerade nebenbei irgendeinen Universitätsabschluss und so weiter und so fort, aber am meisten achtete ich auf ihre Füllwörter. Die wichtigsten von ihr verwendeten hießen nämlich basically und actually: Sie studierte basically Business Administration, hatte actually einen Sprachkurs in Paris absolviert, interessierte sich basically für Fremdsprachen und ist actually durch eine Freundin auf Trafalgar Tours aufmerksam geworden. Actually und basically und immer so weiter. Das fand ich ungeheuer faszinierend. Sicher wusste ich, dass man basically mit eigentlich oder im Wesentlichen und actually mit im Grunde oder im Prinzip übersetzen kann. Aber so wie Brigitta diese Adverbien anwendete, klang es, als könnte man auch die holprigsten Sätze und Wörter mit actually und basically verbinden, als wäre das erst der passende Mörtel für das phonetische Gefüge. Es war, als hörte ich zum erstenmal jemanden vernünftig Englisch sprechen.

Obwohl ich wusste, dass der Zug für mich längst abgefahren war, machte ich noch weiter gute Miene zu bösem Spiel und beteiligte mich notgedrungen an den Aktionen und Diskussionsrunden, die noch folgten. Das meiste kannte ich schließlich schon ähnlich von meiner Bewerbung bei Great Western Union (siehe Kapitel „Matheklausur mit Bombenergebnis“). Einer Diskussionsrunde zu irgendeinem aktuellpolitischen Thema folgte eine Basteleinlage, zu der man uns in Vierergruppen einteilte. Selbstverständlich mied ich dabei Brigittas Gruppe. Bei der Teamarbeit musste man aufpassen, dass man nicht nur Befehle erteilte, ebenso wie man darauf achten musste, nicht nur Anweisungen auszuführen. Die Mischung hat's eben gemacht. Zu meiner Überraschung musste man zum Schluss noch zu Einzelgesprächen ins Büro, bei denen die Tests gleich ausgewertet wurden anstatt üblicherweise von der Rezeptionistin die bekannte Floskel You will hear from us mit nach Hause zu nehmen. Dann war der Horror endlich zu Ende und damit der für mich wohl grauenhafteste Bewerbertest des ganzen Jahres.

Aber eins sollte mir dennoch haften bleiben: Seitdem konnte ich nicht nur meine Englisch-Konversation genüsslich mit actually würzen, ich trieb es sogar noch weiter und baute dieses Wort, das für mich zweifelsohne rapide an Kultcharakter gewann, auch zunehmend in meine deutschsprachige Konversation mit Sixtus und später auch mit anderen Freunden und Bekannten ein, und es ist als solches nicht nur mir erhalten geblieben, sondern lebt auch bei zahlreichen unserer Freunde bis zum heutigen Tag als Slang-Begriff weiter.

Actually ahnt Brigitta von Wolff bestimmt bis heute nichts davon.

 

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