Nachwort S. P. F.

Oder: Wie ein Buch geschrieben wurde

Es ist Tradition bei uns und unseren Freunden, über jede Reise, und sei ihr Ziel auch noch so unbedeutend, einen originellen Reisebericht zu schreiben. Auch über unsere Abschlussreise durch Irland (siehe Kapitel „Nothing to see“) ist einer entstanden, passenderweise in Limericks, einer Dichtform die sich nach einem gleichnamigen irischen Ort benennt. Aber über London hatte keiner etwas geschrieben, wenn man einmal von unserem Stadtführer Fancy that of London und unserem Pubführer The 101 Pubs of M. & M. für eventuelle Nachahmer unter unseren Freunden absieht. Und dabei hatte Mäsjuh in seinem letzten Reisebericht über Bali (siehe „Vorwort“) neben seinem Statement, seine Pfunde auch notfalls bei McDonald's zu verdienen - was dann wie bekannt bei der Konkurrenz endete (siehe Kapitel „Einwegspritzen, 18 Millionen Dollar und ein Glas Vegemite“) - schon den nächsten Bericht angekündigt.

Als wir am Samstag, dem 26. Juli 1997 unter Einsparung der Fahrtkosten von jeweils 99 DM - Mäsjuh als Reiseleiter und ich als blinder Passagier - für einen lächerlich kurzen Tag in unser Abenteuerreich zurückkehrten, hetzten wir in achteinhalb freien Stunden durch unser altes Jagdrevier. Wie uns dabei zumute war, kann ich mit meiner bescheidenen Kunst nur schwer beschreiben. Wir suchten im Büro von 1st Contact vergeblich nach Nikki, im Willett Hotel vergeblich nach Elisabetta, im Kwiksafe vergeblich nach Razia, fanden dann in der 86 Bravington Road wenigstens noch Günther, warfen einen Blick in Room G, der bewohnt und doch kahl wie die Zelle einer Strafanstalt war, kämpften uns durch den Portobello Road Market, besuchten The Earl of Lonsdale, eins von schließlich nur 101 Pubs, standen dann wieder vor der schmierigen Scheibe von Seven Acres, wurden diesmal nicht von Armik überrumpelt, sahen aber zwei Mäuse umherflitzen, die wahrscheinlich die Nachkommen waren von der Vision, die ich einst mitten in der Arbeitszeit gehabt hatte, zogen über die Rennstrecke zum Prince Charles, machten in den Crystal Rooms einen erfolglosen Versuch mit dem Plüschtiergreifer und suchten ebenso erfolglos nach Voucher-Verteilern für eine Encounter-Partie im Planet Hollywood. Als wir wieder in die Tube stiegen, hätte ich heulen mögen. Der Himmel machte es die ganze Zeit vor. Diesmal trat der Reisebericht als trauriges Märchen in Erscheinung.

Kurze Zeit darauf schrieb mir Mäsjuh einen sechsseitigen Brief. Auf der ersten Seite erklärte er mir, man müsse doch endlich etwas über unser Jahr in London schreiben (mit man meinte er wohl uns beide). Auf der Seite zwei fand sich eine ziemlich lange Auflistung von Themen, aus denen man die Kapitel machen könne. Auf den Seiten drei bis sechs standen bereits vier Kapitel: „Donuts, Rum & Wassersuppe“, „Für eine Handvoll Pounds“, „Unter der Herrschaft von Agnes“ und „Tube-Krieg“. Ich las mir alles durch und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Denn dort, wo die „Akte London“ in meinem Kopf gespeichert sein sollte, herrschte eine große Leere. Zwei Wochen später legte er noch „Von der Ware Arbeitskraft“ und „Showdown am Lido“ nach. Jetzt antwortete ich, dass ich die Idee eigentlich ganz gut fände, aber gerade eine emotionale Krise hätte und vorerst nichts mehr von London hören wolle. Nun schrieb Mäsjuh auch nichts mehr davon. Es vergingen volle vier Jahre. Vier ganze Jahre. Man stelle sich vor: Viermal London hintereinander. Aber in Wirklichkeit war es doch nur einmal Berlin. Bei Mäsjuh waren es immerhin Kiel, Neuseeland und Wiesbaden, wohin ihn neue Tätigkeitsfelder zogen anstatt der vorherigen Monotonie in Berlin, die ja immerhin erst zu unserem Projekt geführt hatte (siehe „Vorwort“).

Zu Weihnachten des Jahres 2000 schenkte mir Mäsjuh eine Karte mit folgendem Wortlaut: 5 Jahre London. Never forget. Dazu hatte er ein kleines Stichwort-Alphabet aufgelistet von A wie Armik bis Z wie Zoo Bar. Es fehlte auch nicht E wie Elisabetta. Diese Karte bewegte mich so, dass ich eine gewaltige Kartei entwarf, auf der es von vielen A's bis zu vielen Z's so ziemlich alles gibt, was uns mit London verbindet. Und dann lebten die Erinnerungen wieder auf. Ich wurde ins Jahr 1996 zurückgebeamt wie mit einer Zeitmaschine. Schon bald schrieb ich meine ersten Kapitel: „Incredible, isn't it? But it's true.“, „Mit Eimer und Gitarre“, „Zwei Sachen zum Totlachen“, „Room G for Germany“, „Der Pate braucht keinen Juristen“, „Die Queen heißt Elisabetta“ und „Per Stunt zum Actionfilm“, und schon hatte ich Mäsjuh überholt. Von jetzt an ging es Schlag auf Schlag. Wir richteten eine Diskette ein und legten fest, dass sie jeweils für ein, zwei Monate bei einem von uns verbleiben solle, und dass nur derjenige, der gerade im Besitz der Diskette sei, am Inhalt der Dateien arbeiten dürfe. Es war noch kein Jahr vergangen, da hatten wir so bereits 40 Kapitel zusammen, und Mäsjuh drängte zum Abschluss. Er wollte wohl unser Buch unter den deutschen Tannenbäumen sehen. Aber nun war ich nicht mehr zu bremsen. So viel Erlebtes kam mir noch in den Sinn, das ich verarbeiten wollte. Ich legte noch zweimal fünf Kapitel drauf, und Mäsjuh blieb nichts übrig, als jeweils nachzuziehen.

Und was wird unkommentiert bleiben, nachdem wir nun doch ein Ende gemacht haben: Mäsjuhs wegen der Sommerzeitumstellung alleinige Fahrt nach Stonehenge und Salisbury, seine Geburtstagsfeier bei Mistel Wu, das Masters of Music im Hyde Park, das Summer Jam in Hammersmith, der Karneval in Notting Hill, das Fußballspiel im Stadion von Arsenal, Skatnächte im Casserly Court Hotel, der Cadbury's Strollerthon durch Kensington und Westminster, die Last Night of the Proms in der Royal Albert Hall, Halloween im Prince Alfred Pub, die ebenso rituelle wie pompöse Wahl des Lord Majors der City of London, schließlich die vielen interessanten Fahrten in die Umgebung der Stadt. Wenn man erst die unvergesslichen kleinen Episoden aufzählte, etwa, wie wir uns für einen Festumzug auf der Freitreppe der St. Paul’s Cathedral verabredet hatten, wo zu diesem Zeitpunkt jedoch ranghohe Offiziere auf die Queen warteten, wie Mäsjuh bei Kwiksafe beweisen sollte, dass er schon älter als achtzehn war, wie ich an einem Imbissstand gefragt wurde, ob ich aus Russland käme, wie mir im West End ein Obdachloser 10p hinterherwarf, wie mir in Mayfair eine Edelnutte ihre Begleitung anbot, wie mir in Bayswater ein Künstler die Skizze meines Portraits schenkte oder wie in South Bank ein Passant auf meine Frage nach der Zeit statt einer Antwort über die Themse zeigte, wo sich eine riesige Uhr befand, das Buch würde nie ein Ende finden. Außerdem müssen wir auch langsam unsere Schuld beim berühmten Dirigenten Kurt Masur einlösen, der uns vor der Royal Albert Hall gefragt hatte: Was machen sie denn hier? Als wenn er geahnt hätte, ja, als wenn er es uns angesehen hätte, dass wir hier mehr machten als nur Tschaikowskijs Fünfte - Völlige Ergebung in das Schicksal - von seinen New Yorker Philharmonikern zu hören. Abschied muss sein, fällt er auch noch so schwer. Schließlich ist auch das Jahr 1996 zu Ende gegangen und damit der sicher aufregendste Abschnitt unseres Lebens.

Ich kann unsere Leser nur ermutigen: Nehmt eine Auszeit, überredet euren besten Freund oder eure beste Freundin, vermietet eure Wohnungen, kauft euch ein Ticket, packt eure Koffer (aber vergesst nicht, eine Überlebensreserve mithineinzuschmuggeln) und schreibt euer eigenes Abenteuerbuch!

Eure Vorreiter Mäsjuh Wühle & Sixtus P. Faber

Navigation fehlt? Klick hier.