Possenspiel mit Dosenbohnen S. P. F.

21. Kapitel

Oder: Wie wir uns nicht die Margarine vom Brot nehmen ließen

Irgendwann im Januar entdeckte Mäsjuh bei der Erkundung der Harrow Road (siehe Kapitel „Unisex“) den Supermarkt Kwiksafe (eine weitere dem amerikanischen Stil nachgeahmte sprachliche Verballhornung von quick save - schnell sparen), der, wie wir später feststellen sollten, Filiale einer Kette ist, die das Niveau hat wie bei uns ALDI, aber obendrein noch eine Besonderheit anbot wie bei uns beispielsweise Kaiser's mit A&P: Die Marke No Frills. Das heißt Keine Schnörkel und bedeutet, dass es sich um Produkte handelt, die so billig sind, dass sie sich noch nicht einmal ein ansprechendes Etikett leisten können. In der Tat war das Label weiß mit schwarzer Beschriftung. Dieses Niveau sollte also verdünnte Tomatensuppe mit eingebrocktem Weißbrot, geheimnisvolle Donuts und offiziell längst nicht mehr existierende Whopper ablösen und das wechselnde, nicht eben üppige Angebot von aus Burger King geklautem Tee, aus Seven Acres geklauten Eiern und später aus dem Casserly Court geklauten Crossaints (siehe Kapitel „Reception, please!“) bereichern. Außerdem: wer will schon den ganzen Tag lang frühstücken? Vitamin- und kalorienbewusste Ernährer sollten jetzt mit dem Lesen aufhören und nachträglich einen Gemüsesaft auf unsere Gesundheit trinken. Ich erlaube mir, ins Detail zu gehen: Baked Beans (zum Preis später) sind gebackene weiße Bohnen in süßlicher Tomatensoße und als solche sicher nicht nur in England bekannt und noch harmlos. Custard Creams (19p) sind dunkle Doppelkekse mit einer weißen, nichts weiter als süßen Verbindungsschicht. Swiss Rolls sind Kuchenteigrollen, die in zwei Varianten aufreten: Entweder als weiß mit roter Marmeladenfüllung (ebenfalls 19p), wie Mäsjuh sie mochte, oder als braun mit einer weißen und süßen Vanillecremefüllung (also den Custard Creams nicht ganz unähnlich, nur viel weicher und um 3p billiger), was mehr nach meinem Geschmack war. Im Gegensatz zu Schokolade, die in den meisten europäischen Ländern um Deutschland extrem teuer ist und nur von mir gekauft wurde, wenn ich schon vor Sucht nach der gewohnten Leckerei verging, war das Zeug extrem billig und vor allem, da aus Teig bereitet, extrem sättigend. Es kamen Zeiten, da hing es uns schon zum Halse heraus. Aber wir blieben konsequent. Dann waren da noch Cannon Lager und Cannon Bitter. Wenn Kwiksafe noch nach 11 p.m. geöffnet gehabt hätte, hätten die hinter Gitter gehört, denn sie enthielten Alkohol - auch wenn es nur 2.2% waren. In Großbritannien gibt es neben dem Elf-Uhr-abends-Quatsch die vernünftige Sitte, dem Bier verschiedene Anteile an Alkohol zu verpassen und entsprechend auszupreisen. So kam es, dass vier hellblaue Büchsen Cannon Lager oder vier rote Büchsen Cannon Bitter (jeweils mit einer weißen Kanone illustriert - No Frills Beer gab es nicht) in der Größe eines Pints (1pt = 0,568l), die durch eine Plastikrosette miteinander verbunden waren, anfangs nur £0.79 kosteten (im Mai wurde der Preis zu unserem Ärger um 19p angehoben, ohne dass der Alkoholgehalt gesteigert worden wäre). Mäsjuh bevorzugte Bitter, ich Lager. Beide Sorten waren natürlich nicht gerade die Verkörperung perfekten Biergenusses, denn sie schmeckten ziemlich wässrig. Oft halfen wir uns vor unseren Venues erst einmal jeder zwei Büchsen ein, brauchten dann kein Bier zu gastronomischen Preisen zu erstehen und hatten trotzdem unseren Spaß. Das Gegenteil ist übrigens umso teureres Bier mit über 8% Alkoholgehalt wie Elephant Lager oder Tennants, wie uns einmal Mäsjuhs Vater Eberhard (siehe Kapitel „Mit Tiroler Hut im Tiroler Hut“) zu kosten gab. Das schmeckt dann schon gar nicht mehr wie Bier, sondern nur noch nach Schnaps. Als Alternative gab es auch hin und wieder Château Manville, einen trotz des edlen Namens billigen Schaumwein (97p). Zu unserem Dauersortiment gehörten selbstverständlich auch Sliced White Bread und Sliced Brown Bread (wobei letzteres in etwa den Status wie bei uns das Mischbrot hat). Schwarzbrot gibt es in den europäischen Kulturen um die deutsche nicht. Es wird auch keinem unserer benachbarten Pizza-, Baguette- und Croissantesser aus der 86 Bravington Road, die wir übrigens nie bei Kwiksafe getroffen haben, aufgefallen sein. Aber uns wurde die unfreiwillige Abstinenz von Schwarzbrot so zum Leidwesen, dass Mäsjuh als Gegenwert für die Bereitstellung unserer Betten von unseren Freunden aus der Heimat selbiges erbat, das auch ich mit nie gekanntem Gieper verzehrte. Bestrichen wurden die Schnitten unbeachtet ihrer Nationalität mit No-Frills-Margarine, die es in einem Riesenbehälter gab, der ein ganzes Fach in unserem Kühlschrank für sich beanspruchte, fast einen Monat reichte und nach dem Auswaschen noch als Behälter für Kleinkram Verwendung fand. Außerdem gehörten die vielzitierten Speddi (Spaghetti, ein Wort, das sich durch seine häufige Aussprache wie von selbst optimierte) dazu, die in Fortsetzung einer Potsdamer Studententradition immer mit verschiedenen, experimentell kreierten Saucen gereicht wurden - beispielsweise mit Salatdressing (siehe Kapitel „Donuts, Rum & Wassersuppe“).

Bis zu einem bestimmten Tag. Ich schlage den Bogen zurück und meine die Baked Beans. Diese unauffälligen kleinen Dinger machten im März Furore, und das ohne große Werbeplakate oder nervende Radiogigs. Die 14.75 Ounces wiegenden Dosen (1oz = 28,3g) kosteten als Marke No Frills anfangs 17p, was schon halb so teuer wie andere Marken war. Dann standen sie im Eingangsbereich. Niemand ahnte etwas. Ich sehe mich noch lässig vier Büchsen en passant in den gerade abgeketteten Wagen stellen, denn wir hatten in diesen Tagen Caticus zu Besuch, der nicht nur wie Rehus und ich der Potsdamer Campustradition verhaftet war, sondern obendrein auch noch Baked Beans zu seiner Leibspeise erklärt hatte. Am nächsten Tag waren sie mit 15p ausgepreist. Oh, dachte man, und kaufte sie nur noch lieber. Als sie dann aber für 13p angeboten wurden, stutzte man zunächst. Da muss doch etwas faul sein. Oder war der Wurm drin? Vielleicht waren sie verstrahlt. Aber eins waren sie auf jeden Fall: billig. Also begann man sich den Wagen vollzupacken. Beim Preis von 11p lächelte man, denn man hatte die Regel erkannt. Und natürlich kaufte man. Mit 9p verließ die Zahl zum erstenmal das gewohnte Bild der Zweistelligkeit, und spätestens jetzt mussten selbst die verschlafensten unter den Kunden aus ihrem alltäglichen Einkaufstrott gerissen worden sein. Bei 7p machte man sich ernsthaft Gedanken, wann wohl Schluss mit diesen Possen wäre, und da man zu dem Ergebnis kam, dass es auf keinen Fall ein Dauerzustand sein könne, weil die Herstellungs-, Verpackungs-, Transport- und Verkaufskosten längst unterschritten waren, begann man zu horten. Statt vier Büchsen kaufte man schon einmal sechs. Ich weiß es noch genau: Es war Freitag, der 15. März, als Mäsjuh theatralisch unseren Room G betrat, acht Büchsen auf den Brotpaletten-Tisch stellte und auf meine Frage nach dem aktuellen Preis die rechte Hand mit sämtlichen abgespreizten Fingern hob – 5p! Und schließlich kam der Tag, wo die Büchse einen Gegenwert von 3p haben sollte. Noch heute sehe ich mich, wie ich zehn Büchsen in zwei Fünferreihen auf das Transportband an der Kasse stelle. Da schiebt sich die braune Hand von Razia, der hübschen indischen Kassiererin, zwischen beide Reihen und trennt sie geschickt voneinander. Sorry sagt sie, only five allowed. Ich regte mich auf. Das war ja wie im Sozialismus! Der Ladensheriff, den sich Kwiksafe erstaunlicherweise leistete und den wir wegen seiner Uniform mit Lackschuhen immer Lackaffe nannten, kam näher. Ich nickte und ergab mich vorläufig in mein Schicksal. Es war ja alles andere als ärgerlich, denn jetzt hatten sie uns herausgefordert, und sie würden schon sehen, was sie davon hätten.

Diesmal war ich es, der in Room G seinen Bohnen-Auftritt hatte. Vor Mäsjuhs staunenden Augen ließ ich meine Hand stellvertretend für die der Inderin zwischen fünf volle und fünf leere Büchsen über die Brotpalette schießen. Als ich fertig war, stand Mäsjuh schon in der Tür. Natürlich war es nicht unbedingt eine Frage der Raffgier, dass er loszog und die fünf Büchsen kaufte, die mir vorenthalten worden waren. Um den Preis, der ohnehin kaum noch diesen Namen verdiente, ging es wohl auch längst nicht mehr. Wir hatten in einem Spiel, bei dem unser Gegner sich die Regeln zu ändern herausnahm, weil ihm die Puste auszugehen drohte, den längeren Atem behalten und konsequent zurückgeschlagen. Und in Room G wurde ein Siegesfest gefeiert, zu dem wie gewohnt Speddi mit Baked Beans bereitet wurden. Am nächsten Tag kosteten die Dosenbohnen wieder 17p und standen auf ihrem angemessenen Platz zwischen Dosentomaten und Dosenkartoffeln.

Zu unserer großen Überraschung entdeckten wir in der Times einen kleinen Artikel mit der Überschrift: The price war is over. Mit offenem Mund lasen wir da, dass es sich mitnichten um einen Scherz, eine Posse, ein Spielchen gehandelt hatte, sondern um die Auswirkungen eines erbarmungslosen Preiskrieges zwischen Kwiksafe, ALDI und Netto. Von den letzteren beiden, die uns aus der Heimat so vertraut waren, haben wir das ganze Jahr über nicht eine einzige Filiale zu Gesicht bekommen. Wir blieben weiterhin treue „Kwiksafer“, und hin und wieder verirrte sich dabei auch eine Dose leckerer weißer Bohnen mit Tomatensoße in unseren Einkaufswagen, bevor sie von Razia mit unbeteiligter Miene über das Band geschoben wurde.

 

 

 

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