Vorwort

Oder: Wie eine Idee geboren wurde

Dienstag. 19. Dezember 1995. 20 Uhr. Berlin-Prenzlauer Berg. Lychener Straße. Café Fünf Ziegen. Hier hatten sich Sixtus und ich mit einer gewissen Kerstin verabredet. Die Jurastudentin kannte bis dahin keiner von uns. Aber als ich meiner Ex-Kommilitonin Hildrun von meinen noch vagen London-Plänen erzählt hatte, war sofort die Verbindung zu Kerstin hergestellt, da diese bereits längere Zeit in der britischen Metropole gewohnt und gearbeitet hatte. Und genau das war unser Ziel. Der gemeinsame Entschluss stand zu diesem Zeitpunkt bereits felsenfest. Von Kerstin erhofften wir uns nun noch die letzten Tipps und Tricks für unseren dortigen Aufenthalt.

Etwa vier Monate vorher, Mittwoch, 30. August 1995, 16:25 Uhr, Flughafen Stuttgart: Mit einer Reisetasche checkte ich für die Maschine der Deutschen BA nach Berlin-Tegel ein. Wenige Tage zuvor hatte ich meinen Job verloren, die Firma hatte Konkurs angemeldet, meine Unterkunft hatte ich aufgegeben. Was mir blieb, waren noch die Wohnung in Berlin, zahlreiche Freunde und ein paar unausgegorene Ideen. Mitschuld hatte in jedem Fall der Sommer. Es heißt ja, in der warmen Jahreszeit werden Hormone freigesetzt, die uns Menschen aktiver werden lassen. Konkret konnte ich mir am Ufer eines Berliner Badesees nach der nervenaufreibenden Zeit, die ich in der baden-württembergischen Landeshauptstadt durchlebt hatte, erst einmal nicht vorstellen mit der U-Bahn fünf Tage die Woche zur Arbeit zu fahren um genau dort wieder anzufangen, wo ich soeben aufgehört hatte. Und selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nichts gefunden im Deutschland des Jahres 1995, denn Rezession und Arbeitslosenrate standen auf einem hohen Niveau. Der alte Traum vom Auswandern wurde auch in mir geweckt. Ja, das wär‘s: Auswandern, aber wie und wohin? Oder wenigstens auf Zeit, für einige Monate die gewohnten Strukturen aufbrechen, sich selbst finden, Abenteuer erleben. Kaum war ich mit den Gedanken so weit, da zog ich schon London als geeigneten Ort in Betracht. Bereits im Februar 1994 waren Sixtus und ich dort gewesen und hatten uns von China Town und den gigantischen Leuchtreklamen des nächtlichen Piccadilly Circus faszinieren lassen. Damals hatte ich ihn auf eine Klassenfahrt, die ich während meines Studiums unternommen hatte, eingeladen. Als Tourist in London zu sein ist eine Sache, aber dort zu leben und zu arbeiten würde eine ganz neue Herausforderung an uns darstellen. In der Zeitung Zweite Hand entdeckte ich dann eine Anzeige der Auslandsjob-Vermittlung Easy London im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen. Ich nahm zu dieser Agentur, deren Geschäftsführer ein Italiener namens Tristan M. war, Kontakt auf und ließ mir Info-Material schicken. Nun hatte ich zumindest schon konkrete Adressen im Zielgebiet: eine Arbeits- und Wohnungsvermittlung für insgesamt £150 Jahresbeitrag. Das Konzept schmeichelte meinen kühnsten Vorstellungen. Mit einem Bein stand ich schon mittendrin. Dann überlegte ich mir, dass ein Jahr in einer fremden Stadt allein doch zweifellos gewisse Härten mit sich bringen müsste, zu zweit hingegen könnte man daraus das ultimative Erlebnis machen. Sofort dachte ich an meinen besten Freund und Reisegefährten Sixtus, der schon seit einigen Jahren an der Universität Potsdam für das Lehramt in Deutsch und Musik studierte, dessen Studien jedoch in letzter Zeit immer mehr im Sande verliefen. Diagnose: akute Lustlosigkeit. Auch er könnte neue Impulse bestimmt gebrauchen.

Dann war da jenes legendäre Telefongespräch, das irgendwann im September 1995 durch die Leitungen gegangen sein muss und im Wesentlichen so ablief: Sag mal, hast du Lust für ein Jahr mit nach London zu kommen? Darauf kam wie erwartet zunächst als Gegenfrage: Wie? Nicht so richtig jetzt? Nachdem er jedoch die Überraschung verarbeitet hatte, fing auch er an Lunte zu riechen. Ich hatte bei ihm offene Türen eingerannt. Seitdem stand für uns beide das Projekt London fest und wir arbeiteten zielgerichtet darauf hin. Hierfür bestimmt wurde ziemlich rasch das Jahr 1996, und zwar das gesamte Kalenderjahr, also beginnend mit dem 1. Januar und eigentlich endend mit dem 31. Dezember, was jedoch von mir zu Gunsten eines bei uns traditionell sehr familiären Weihnachtsfestes um ganze neun Tage gestutzt wurde. Bis zum Jahreswechsel mussten wir uns um die Untervermietung unserer Wohnungen gekümmert und alle bürokratischen Belange wie Abmeldung beim Arbeitsamt, Beantragen von Urlaubssemestern an der Uni und Abschließen einer Krankenversicherung erledigt haben. Am kompliziertesten gestaltete sich die Suche nach Untermietern, da wir beide unsere Wohnungen nicht aufgeben wollten, also zwangsläufig untervermieten mussten. Ich hatte in der Zweiten Hand eine entsprechende Annonce aufgegeben und Sixtus‘ Domizil wurde zwischenzeitlich zur Telefonzentrale, da ich mir den Luxus geleistet hatte kurz vor unserer Abreise noch einen Urlaub auf Bali einzuschieben. Bei ihm indes liefen die Drähte heiß und er hatte unter Vietnamesen, Mongolen, Tataren, Studenten und Geschäftsleuten geeignete Bewerber auszuwählen. Ich entschied mich nach meiner Rückkehr für einen Mongolen und Sixtus nahm einen tatarischen Studenten auf. Ärger hatte mein Partner noch mit einem gewissen Harry, über dessen Kapriolen noch einiges zu lesen sein wird (siehe 1. Kapitel).

Im Café Fünf Ziegen stellte sich dann heraus, dass Kerstin, die Bekannte von Hildrun, ebenfalls Klientin bei Easy London gewesen war und dabei überwiegend recht gute Erfahrungen gesammelt hatte. Das schaffte Mut und versetzte uns geradezu in einen wahrhaft euphorischen Zustand. Wir fühlten uns wie Rennpferde in der Startbox. Im Dezember hatten wir bis auf das kleine Problem der Aufklärung von Sixtus‘ Familie alle Formalitäten soweit geklärt, dass wir sagen konnten: London - das Abenteuer kann beginnen!

 

 

 

 

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